Richard Feynman erzählt in seinen Memoiren eine aufschlussreiche Episode aus dem Manhattan Project. Die Berechnungen für die Atombombe waren kompliziert und gingen quälend langsam voran. Dutzende Frauen saßen an mechanischen Rechenmaschinen und tippten Zahlen ein – Tag für Tag, Stunde um Stunde. Die Produktivität war miserabel.
In einer Besprechung diskutierte man Lösungen. Höhere Bezahlung? Bonuszahlungen? Strengere Kontrollen? Feynman stellte eine simple Frage: „Wissen die überhaupt, woran sie arbeiten?“
Betretenes Schweigen. Natürlich wussten sie es nicht. Geheimhaltung. Aber Feynman bestand darauf: „Sagt es ihnen.“
Man tat es. Und die Produktivität explodierte.
Die Rechnerinnen tippten nicht mehr nur Zahlen. Sie arbeiteten daran, den Krieg zu beenden und die westliche Zivilisation zu retten. Dieselben Menschen, dieselben Maschinen, dieselbe Aufgabe – aber mit Sinn und Zweck.
Was Teams und freie Gesellschaften gemeinsam haben
Colin Fisher, Professor für Organisationsverhalten am University College London, hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben: The Collective Edge. Es geht um Teamarbeit, Führung und Gruppenperformance. Aber wer genau hinsieht, erkennt darin die Grundprinzipien liberaler Ordnungen im Kleinen.
Die Parallelen sind frappierend: Dezentrale Entscheidungen schlagen zentrale Steuerung. Autonomie motiviert besser als Kontrolle. Transparenz ermöglicht Fehlerkorrektur. Stabile Strukturen sind wichtiger als heroische Einzelpersonen. Und: Skalierung hat natürliche Grenzen.
Wer über Teams spricht, spricht – oft ohne es zu wissen – über die Architektur freier Gesellschaften.
Autonomie statt Kontrolle: Das liberale Menschenbild
Fisher betont eine Erkenntnis, die aus der Work Design Theory stammt: Menschen arbeiten am besten, wenn sie drei Dinge haben:
- Task Identity – Sie sehen das Ergebnis ihrer Arbeit
- Task Significance – Sie verstehen, warum ihre Arbeit wichtig ist
- Autonomy – Sie kontrollieren wie, nicht was sie erreichen sollen
Das klingt banal, wird aber systematisch ignoriert. Führungskräfte setzen auf Mikromanagement, Incentive-Systeme und motivierende Ansprachen. Alles Symptombehandlung. Das eigentliche Problem: schlecht gestaltete Aufgaben.
Fishers Argument ist zutiefst liberal: Menschen brauchen keine externe Motivation, wenn die Struktur stimmt. Sie brauchen Freiheit im Rahmen klarer Ziele. Genau das, was Reinhard K. Sprenger seit Jahrzehnten predigt – kein Zufall bei einem überzeugten Libertären.
Die Parallele zur Gesellschaftsordnung liegt auf der Hand: Paternalistische Steuerung demotiviert. Menschen, die das Gefühl haben, fremdbestimmt zu sein, ziehen sich zurück. „Wenn etwas schiefgeht, ist das jetzt deren Problem, nicht meins“, wie Fisher es formuliert. Mikromanagement tötet Verantwortung – im Team wie im Staat.
Structure is King: Warum Institutionen wichtiger sind als Personen
Eine der zentralen Thesen des Buches bzw. des Gesprächs von Colin Fisher mit Russ Roberts: Structure beats coaching.
Ruth Wageman untersuchte Kundenservice-Teams bei Xerox. Einige Teams waren gut strukturiert (klare Ziele, gute Aufgaben, richtige Größe), andere schlecht. Einige hatten gute Coaches, andere schlechte.
Das Ergebnis:
- Gut strukturierte Teams profitierten von gutem Coaching – ein bisschen
- Gut strukturierte Teams litten unter schlechtem Coaching – kaum
- Schlecht strukturierte Teams profitierten von gutem Coaching – gar nicht
- Schlecht strukturierte Teams litten unter schlechtem Coaching – massiv
The rich get richer, the poor get poorer. Aber die entscheidende Variable ist die Struktur, nicht die Person des Coaches.
Das ist im Grunde pure Ordoliberalismus-Logik aus den USA reimportiert: Die Rahmenordnung entscheidet. Heroische Einzelpersonen können schlechte Strukturen nicht dauerhaft kompensieren. Umgekehrt: Gute Strukturen machen eine Gesellschaft resilient gegen schlechte Führung.
Fisher formuliert es inmissverständlich: „Kein Maß an Charisma überwindet schlechte Arbeit.“ Oder wie Hayek es für Gesellschaften ausdrückte: Keine noch so kluge zentrale Planung ersetzt dezentrale Wissensnutzung in funktionierenden Märkten.
Die Grenzen der Skalierung: Warum 3-7 ideal sind
Fisher empfiehlt für effektive Teams eine Größe von drei bis sieben Personen. Nicht zufällig. Darüber hinaus explodieren die Koordinationskosten.
Das erinnert an Ronald Coase‘ Theorie der Firma: Unternehmen wachsen, solange interne Koordination billiger ist als Markttransaktionen. Irgendwann kippt das Verhältnis. Dieselbe Logik gilt für Teams.
Fishers Beobachtung ist scharf: Teams wachsen fast immer, weil Hinzufügen leicht und Ausschließen unangenehm ist. Menschen einzuladen ist einfach. Sie wieder rauszuwerfen – sozial und emotional schmerzhaft.
Das Ergebnis: Meetings mit 20 Leuten, in denen nichts entschieden wird. Koordinationschaos. Bürokratie als Notlösung.
Die politische Analogie drängt sich auf: Staatliche Organisationen wachsen aus denselben Gründen. Ämter abzuschaffen ist politisch toxisch. Neue zu schaffen dagegen populär. Das Ergebnis: Überkoordinierte, ineffiziente Strukturen. Außerdem wird in Hierarchien und damit Bürokratien belohnt wer viele Mitarbeiter hat.
Das Subsidiaritätsprinzip ist die institutionelle Antwort auf dieses Problem: Entscheidungen so dezentral wie möglich, so zentral wie nötig. Im Team wie im Föderalismus.
Offenheit und Fehlerkultur: Psychological Safety als liberales Prinzip
Amy Edmondson, ebenfalls Schülerin von Richard Hackman, untersuchte Pflegeteams in Krankenhäusern. Sie wollte messen, wie gut verschiedene Teams strukturiert waren – und erwartete, dass gut strukturierte Teams weniger Medikationsfehler machen.
Das Gegenteil schien der Fall: Die gut strukturierten Teams meldeten mehr Fehler.
Edmondson grub tiefer. Die Teams machten nicht mehr Fehler. Sie meldeten sie nur. Die schlecht strukturierten Teams vertuschten systematisch, aus Angst vor Konsequenzen.
Das ist die Geburtsstunde des Konzepts Psychological Safety: Die Fähigkeit eines Teams, Fehler zuzugeben, Fragen zu stellen und zu widersprechen – ohne Angst vor sozialer Ausgrenzung.
Fishers Pointe: Diese Sicherheit entsteht nicht durch Vertrauensübungen im Hochseilgarten. Sie entsteht durch gemeinsame Arbeit an sinnvollen Aufgaben. Task-based trust, nicht socio-emotional trust.
Die Parallele zu Karl Poppers offener Gesellschaft ist offensichtlich: Fortschritt durch Versuch und Irrtum funktioniert nur, wenn Fehler sichtbar gemacht werden dürfen. Autokratische Systeme – wie schlecht strukturierte Teams – produzieren Vertuschung, Scheinerfolge und schließlich Kollaps. In einer Bürokratie müssen die „Hierarchen“ Recht haben, weil sie als oberste und letzte Instanz gelten.
Transparenz ist kein Selbstzweck. Sie ist die Voraussetzung für Fehlerkorrektur. In Teams wie in Gesellschaften. Im Staatsapparat ist viel davon die Rede.
Das 93%-Problem: Wenn selbst Eliten scheitern
Eine der verblüffendsten Statistiken aus Fishers Buch: Nur 7% der Top Management Teams können übereinstimmend angeben, wer zum Team gehört. 93% der Führungsteams sind sich nicht einmal einig über die Anzahl der Mitglieder.
Wenn nicht einmal die Grenzen klar sind – wie soll dann Koordination gelingen? Wie sollen Verantwortlichkeiten definiert werden?
Das ist kein Randphänomen. Es ist symptomatisch für eine tiefere Wahrheit: Auch kluge, gut ausgebildete Menschen scheitern ohne gute Strukturen. Intelligenz ersetzt keine Institutionen.
Die wirtschaftspolitische Lektion: Technokratische Eliten, die glauben, durch überlegenes Wissen komplexe Systeme steuern zu können, unterschätzen systematisch die Bedeutung klarer Regeln, Grenzen und Feedbackmechanismen. Und das müssen sie in ihrer Logik und mit ihren Anreizen auch, weil sie das System schützen.
Hayek nannte das „Anmaßung von Wissen“. Fisher zeigt: Selbst im kleinen Maßstab eines Managementteams versagen Menschen daran.
Fazit: Die liberale Team-Architektur
Was Fisher beschreibt, ist mehr als Organisationspsychologie. Es ist eine empirische Bestätigung liberaler Grundprinzipien:
- Menschen motivieren sich selbst – wenn Strukturen Sinn, Autonomie und Feedback ermöglichen
- Institutionen schlagen Individuen – gute Regeln sind wichtiger als charismatische Führung; Trust the process!
- Skalierung hat Grenzen – Koordinationskosten wachsen nichtlinear
- Offenheit ermöglicht Fortschritt – Psychological Safety ist das Äquivalent zur offenen Gesellschaft
- Dezentrales Wissen nutzen – Menschen mit Sinnverständnis schlagen zentrale Steuerung.
Die Rechnerinnen von Los Alamos haben das bewiesen. Sie brauchten keine höheren Gehälter. Sie brauchten Information. Sie brauchten Sinn.
Teams funktionieren nach denselben Prinzipien wie freie Gesellschaften. Wer das eine versteht, versteht das andere. Und wer beides ignoriert, scheitert – im Kleinen wie im Großen.
Basierend auf dem EconTalk-Interview von Russ Roberts mit Colin Fisher über sein Buch „The Collective Edge: Unlocking the Secret Power of Groups“