Anspruch, Realität und strukturelle Probleme der Politikberatung
I. Boom und Grundmythos der Politikberatung
Politikberatung erlebt seit Jahren einen massiven Aufschwung.
In Deutschland existieren rund 225 Think Tanks (Statista 2017), von denen viele aktiv in den politischen Prozess eingreifen. Die Bundesregierung hat ihre Ausgaben für externe Beratung von 63 Mio. Euro (2014) auf 240 Mio. Euro (2023) fast vervierfacht.1 Auf EU-Ebene vergibt die Kommission inzwischen Beratungsaufträge im Volumen von mehreren hundert Millionen Euro pro Jahr. Weltweit hat sich die Zahl der Think Tanks seit 1980 mehr als verdoppelt.2
Damit dürften das Beratungsphänomen und seine Entwicklung eher grob skizziert worden sein. Die Probleme sind vielschichtiger.
Die öffentliche Wahrnehmung wird von einem rational-optimistischen Leitbild dominiert: Komplexe Probleme lassen sich mit Hilfe wissenschaftlicher Expertise lösen. Wissenschaft und Experten identifizieren die besten Maßnahmen, Politiker und ihre Verwaltungsapparate setzen sie rational um, das Gemeinwohl profitiert. Nicole Waidlein (2023) formuliert es als normative Agenda: evidenzbasierte Politik, Transparenz über Unsicherheiten, kontinuierliche Evaluation, institutionalisierte Lernprozesse.3
Dieses Modell ist attraktiv – und irreführend. Es basiert auf der Annahme, Politik folge rationaler Evidenz, Wissenschaft sei neutral, und beide Systeme ließen sich problemlos synchronisieren.
II. Empirische Realität: Strukturelle Hemmnisse
Forschung und Praxis zeigen, dass diese Annahmen nicht haltbar sind. Fünf strukturelle Problembereiche erklären, warum Politikberatung in der Regel hinter diesen und ihren eigenen Ansprüchen zurückbleibt – extern zugekauft oder entgeltlos empfohlen, aber auch intern in der Staatsbürokratie:
- Inkompatible Rationalitäten
Wissenschaft sucht nach Wahrheit und Effizienz, Politik nach Mehrheiten und Wiederwahl. Ökonomisch „richtige“ Lösungen sind häufig politisch unattraktiv, weil sie Kosten sichtbar machen und konzentrierte Interessen nicht (bevorzugt) bedienen.4 Dieses Spannungsfeld ist strukturell, nicht situativ. - Komplexität und Unsicherheit
Politiker erwarten klare, einfache Antworten, Wissenschaft produziert Unsicherheit, Szenarien und widersprüchliche Evidenz. Waidlein betont: „Grundsätzlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass eindeutige Aussagen getroffen werden.“5 Modelle sind regelmäßig zu abstrakt, Detailstudien zu kontextabhängig – für die politische Praxis sind beide schwer anschlussfähig. Überdies: Politiker und Entscheidungsträger haben selten die Fähigkeit ausgebildet, in Zusammenhängen dynamischer Komplexität zu denken. - Zeit– und Anreizproblem
Politik agiert in Wahl- und Medienzyklen, Wissenschaft in Forschungs- und Publikationszyklen. Analysen benötigen Zeit, Politik verlangt schnelle Ergebnisse. Die Folge: Beratungsprodukte sind entweder zu spät oder zu grob, um handlungsleitend zu sein und adressieren nicht primär das öffentlich gepflegte Bild starker, handelnder Personen. - Abhängigkeit und Interessenkonflikte
Gutachten und Empfehlungen entstehen in einem Umfeld, in dem Erwartungskonformität belohnt wird. Berthold weist darauf hin, dass Berater häufig „politisch vorsortiert“ in Kommissionen berufen werden.6 Unabhängigkeit ist damit weniger gegeben, als es der Anspruch vermuten lässt. Wissenschaft ist nicht per se neutral, vielmehr vertreten Wissenschaftler implizit oder explizit Weltbilder. - Vermittlungs- und Übersetzungsprobleme
Viele Wissenschaftler sind keine guten Kommunikatoren. Politik hingegen verlangt zugespitzte Narrative. Beratungsinhalte versanden häufig an der Schnittstelle zwischen komplexer Analyse und vereinfachter Botschaft. Der Vermittlungsprozess ist grundsätzlich enorm aufwändig und voraussetzungsreich.
Hinzu kommt noch das weite Feld der Machtpolitik, das Gezerre hinter den Kulissen, die politischen Prozesse. Dort behaupten sich Politiker und Karriere-Entscheider. Dort verliert Fachexpertise gegen situative, strategische und gegen manipulative Seilschaften. Diese graue und dunkle Seite der sozialen Welt besitzt elementare alltägliche Bedeutung, wird aber allenfalls aufgrund von Skandalen thematisiert.7
III. Der expandierende Beratungsmarkt
Trotz dieser Defizite wächst die Beratungsbranche weiter. Think Tanks und Beratungsfirmen konkurrieren um Ressourcen, Sichtbarkeit und Einfluss. Das Geschäftsmodell funktioniert nach Logiken der Aufmerksamkeitsökonomie:
- Politik demonstriert Rationalität durch Beratungsaufträge.
- Think Tanks sichern sich Legitimation, Medienpräsenz und Drittmittel.
- Die Öffentlichkeit wird in den Prozess einbezogen, da Expertise auch symbolische Wirkung entfaltet.
Empirie zeigt: Erfolgsmessung ist nahezu unmöglich. Waidlein spricht von einem „Evaluationsproblem“, da sich Wirkungen von Beratung selten eindeutig identifizieren lassen.8 Jeder Akteur kann Erfolge reklamieren, ohne sie belegen zu müssen.
IV. Der enorme Aufwand der „gestaltenden“ Beratung
Die konstruktive Perspektive zeigt Hélène Lavoix (2014) am Beispiel der strategischen Vorausschau. Damit Beratung wirklich wirksam wird, fordert sie: langfristige Institutionalisierung, klare Mandate, Ressourcen, Vertrauen zwischen Politik und Beratern, interne Champions („idea entrepreneurs“).9 Doch gerade diese Bedingungen sind politisch schwer herzustellen. Der Aufwand ist hoch, die Ergebnisse bleiben selbst dann begrenzt.
Das deckt sich mit der Alltagserfahrung vieler Praktiker: Beratung kann anregen, informieren und Optionen aufzeigen – sie ist aber nicht in der Lage, die politischen Entscheidungslogiken grundlegend zu verändern. Mit den deutlichen Worten von Stefanie Babst, ehemalige leitende Mitarbeiterin des Internationalen Stabs der NATO, zur im Auswärtigen Ausschuss präsentierten Fachexpertise: „Die Resonanz war so bescheiden wie peinlich.“10
V. Fazit: Viel Lärm um wenig Wirkung
Die Diagnose lautet: Politikberatung ist strukturell überfordert.
- Waidlein zeigt Möglichkeitne und Grenzen des rational-optimistischen Anspruchs.
- Berthold zeigt die Unvereinbarkeit politischer und wissenschaftlicher Rationalität.
- Lavoix verdeutlicht, wie groß der Aufwand wäre, um überhaupt in die Nähe wirksamer Beratung zu kommen.
Das Ergebnis ist eine Beratungsindustrie, die vor allem performativ wirkt: Sie legitimiert Politik, verschafft Beratern Sichtbarkeit und produziert den Anschein rationaler Steuerung – ohne zentrale Probleme zu lösen. Mit Anthony de Jasay: „We should always take something better than whatever we have, but it is infantile to think that we always can and that saying so will make it so.”11
Politikberatung ist damit kein überflüssiges „Theater“, aber sie ist weit weniger wirksam, als es der Boom und das öffentliche Narrativ suggerieren. Der Diskurs lebt von einer systematischen Selbsttäuschung: Politik, Berater und Öffentlichkeit tun so, als ob rationales Expertenwissen Politik steuere. In Wahrheit folgt Politik ihren eigenen Logiken – und Beratung erfüllt vor allem eine kommunikative, nicht eine substantiell steuernde Funktion.
Ausblick: Das wirft die Frage auf, ob die permanente öffentliche Kritik an der praktizierten Politik verbunden mit Vorschlägen für Verbesserungen geeignet und wirksam ist. Eine Alternative wäre: nicht andere, sondern viel weniger Politik. Eine weitere die langfristige Investition in Denken und Handeln für eine freie Gesellschaft – Marktwirtschaft inklusive.
Quellenangaben
- Bundesrechnungshof / BMF, zitiert nach Wirtschaftliche Freiheit, 2024.
- Global Go To Think Tank Index, University of Pennsylvania.
- Nicole Waidlein, The Art of Policy Advising, Intereconomics, Vol. 58, No. 5 (2023), S. 230–231.
- Norbert Berthold, Politik(er)beratung (8): Bürger, Politiker und Wissenschaftler. Notizen aus der Politikberatung, Wirtschaftliche Freiheit, 18. März 2024.
- Waidlein 2023.
- Berthold 2024.
- Frühzeitig u.a. Henry Mintzberg: The Organization as Political Arena. Journal of Management Studies, 22 (1985) 2, 133–154.
- Waidlein 2023.
- Hélène Lavoix, Ensuring a Closer Fit: Insights on making foresight relevant to policymaking, Development, Vol. 56, No. 4 (2014), S. 464–469.
- Stafanie Babst: Sehenden Auges. Mit zum strategischen Kurswechsel, dtv, München 2023, 8.
- Anthony de Jasay: Open Season on the Capitalist Free-for-All, Econlib Article Feb 2 2009, https://www.econlib.org/library/Columns/y2009/Jasayfreeforall.html