„Planung ist die Ersetzung des Zufalls durch den Irrtum.“
— Robert Nef
„Die Kunst des Fortschritts besteht darin, inmitten des Wechsels Ordnung zu wahren, inmitten der Ordnung den Wechsel aufrechtzuerhalten.“
— Alfred N. Whitehead
I. Das liberale Paradox: Ordnung ohne Befehl
Jeder Garten, der ohne Gärtner gedeiht, verführt uns zu der Annahme, jemand müsse ihn geplant haben.
Wir sehen die Symmetrie seines Wachsens, das stille Gleichgewicht seines Lebens – und glauben an eine verborgene Hand. Doch da ist nur Zeit, Zufall und die leise Disziplin der Natur: ein sich selbst ordnendes System, das sich korrigiert, ohne je kommandiert zu werden. Das gelingt sogar im Fall einer Renaturierung – wunderbar beschrieben hat das Isabella Tree in ihrem Buch „Wilding. The Return of Nature to a British Farm“. Die prosperierende Natur kommt durch unsichtbaren Hände, Hufe, Flügel, Schnäbel, Knospen und Wurzeln entwickelt sich ungeplant.
Die liberale Gesellschaft ist, in ihrer reinsten Form, ein solcher Garten.
Sie beruht auf einer unwahrscheinlichen Idee: Ordnung entsteht nicht durch Zwang. Märkte, Sprache, Recht, Sitte – sie entstehen durch Wechselwirkung, nicht durch Willen. Sie sind Produkte der Freiheit, nicht des Plans.
Doch eben diese Schönheit macht sie zerbrechlich. Jede spontane Ordnung wirft ihren Schatten – das Verlangen nach Kontrolle, nach Übersicht, nach einem Kopf über den Vielen.
Das liberale Paradox liegt darin: Je freier eine Gesellschaft wird, desto stärker wächst ihre Versuchung, sich im Namen der Ordnung wieder zu zentralisieren.
Von Platons Philosophenherrscher bis zu Hobbes’ Leviathan, von den Imperien der Moderne bis zu den supranationalen Bürokratien unserer Tage wiederholt sich das Muster.
Wir verwechseln Koordination mit Weisheit, Hierarchie mit Vernunft, Kontrolle mit Stabilität. Und vergessen, dass die größten gesellschaftlichen Intelligenzen – Handel, Sprache, Recht – ohne Architekten entstanden sind.
II. Das Wachsen dezentraler Ordnungen
Dezentralität ist keine Erfindung der Moderne, sondern ein zivilisatorischer Rhythmus.
Immer wenn Macht zerfiel, entdeckten Gesellschaften die schöpferische Kraft der Vielfalt neu. Die griechische Polis, die Städtebünde des Mittelalters, die Föderationen der Neuzeit, die junge amerikanische Republik – sie alle schöpften ihre Stärke nicht aus Einheit, sondern aus Spannung.
Eine dezentrale Ordnung schafft Konflikte nicht ab; sie zähmt sie.
Sie ersetzt den Krieg aller gegen alle durch das Ringen vieler in einem Gewebe.
Sie verteilt Irrtum auf kleine Flächen, statt ihn an der Spitze für alle darunter zu verfestigen.
Wie Hayek entdeckte, nutzen solche Systeme Wissen, das niemand vollständig besitzt.
Tocqueville sah dasselbe in Amerika: die Bürgerversammlung, den freiwilligen Zusammenschluss, die Gewohnheit, Verantwortung zu übernehmen, ohne auf Erlaubnis zu warten. Dezentralität ist kein ökonomisches Modell, sondern eine moralische Kultur.
Sie setzt Fehlbarkeit voraus und verteilt Macht gerade deshalb.
Anthony de Jasay hat diesen Gedanken geschärft. Der Staat, schrieb er sinngemäß, ist keine Schutzmacht, sondern eine Metastase unserer Angst – der Angst vor der Ungewissheit der Freiheit. Eine Ordnung wachsen zu lassen, heißt, dem Drang zu widerstehen, sie zu entwerfen.
Jede erfolgreiche liberale Ordnung ist im Kern ein Akt der Zurückhaltung: die Übereinkunft, Prozesse wirken zu lassen, ohne sie ständig zu beaufsichtigen. Sie ist institutionalisiertes Vertrauen und dieses Vertrauen steht immer unter Druck. Denn Komplexität erzeugt Angst, und Angst ruft nach Kontrolle.
III. Der Zyklus der Zentralisierung
Wenn Gesellschaften durch Freiheit gedeihen, beginnen sie bald, eben diese Freiheit zu fürchten. Mit wachsender Vielfalt steigt die Unübersichtlichkeit und der Instinkt zur Vereinfachung kehrt zurück. „Jemand muss das steuern“, sagt man sich.
So beginnt der Zyklus:
- Komplexität erzeugt den Ruf nach Koordination.
- Koordination wächst zur Autorität.
- Autorität verfestigt sich zur Hierarchie.
- Hierarchie erstarrt – bis Zerfall den Kreislauf erneut in Gang setzt.
Geschichte bewegt sich in diesem Rhythmus. Auf die polyzentrische Welt der Renaissance folgten die zentralen Monarchien. Auf die Handelsnetze des 18. Jahrhunderts die Imperien der Verwaltung. Und selbst die digitale Dezentralität unserer Gegenwart wird schon von Plattformen absorbiert und Regulatoren dirigiert, die alles in sich und durch sich bündeln.
Zentralisierung verspricht Sicherheit und liefert Gleichförmigkeit. Sie senkt die Kosten der Entscheidung, vervielfacht aber die Kosten des Irrtums. Sind Fehler lokal, kann ein System lernen; sind sie zentralisiert, gar global, stürzt es – zuweilen nachdem es rigide und autoritär wurde wie im Arabischen Frühling und zuvor der gesamte Ostblock.
Die liberale Ordnung zerfällt nicht, weil sie schwach ist, sondern weil ihr eigener Erfolg den Hunger nach Aufsicht weckt. Wohlfahrtsstaat, Regulierungsapparat, Überwachungsnetz – sie alle beanspruchen, Freiheit zu schützen, indem sie sie verwalten. Doch Freiheit lässt sich nicht verwalten; sie lässt sich nur leben.
Jasay warnte, dass der Staat von Natur aus wächst – wie Rost auf Eisen. Sobald Macht sich selbst als Antwort auf Komplexität rechtfertigt, wird sie grenzenlos. Es gibt kein „Genug“ in der Grammatik der Autorität.
So kehrt die moderne Welt, reicher und vernetzter als je zuvor, zur ältesten Täuschung zurück: dass Harmonie einen Dirigenten brauche.
IV. Die Kunst, dezentral zu bleiben
Die Frage ist also nicht, wie man eine vollkommene liberale Ordnung entwirft – sondern wie man dezentral bleibt in einer Welt, die Zentralisierung belohnt.
Drei Grundsätze weisen den Weg:
Erstens: Verantwortung muss sichtbar bleiben.
Dezentrale Ordnung funktioniert, wenn Entscheidung und Folge sich begegnen. In der Ökonomensprache ist das der Rechnungszusammenhang, bei den Juristen Handeln und Haften. Eigentum, lokale Selbstverwaltung, freiwilliger Zusammenschluss – sie binden Macht an Haftung. So wird Freiheit greifbar, nicht abstrakt.
Zweitens: Vielfalt muss als Unabhängigkeit geschützt werden, nicht als Identität.
Nicht die Zahl der Farben im Mosaik bewahrt die Freiheit, sondern dass kein Stein alle anderen überdeckt. Pluralismus ist politische Geometrie – ein Muster der Begrenzung, kein Sammelalbum der Unterschiede. Meinungsvielfalt ist eine schützenswerte Selbstverständlichkeit.
Drittens: Bescheidenheit statt Entwurf.
Eine freie Ordnung lässt sich nicht planen. Sie wächst, wie Vertrauen, wie Sprache, von unten nach oben. Politik hat nicht die Aufgabe, Gesellschaft zu gestalten, sondern ihre Selbstkorrektur nicht zu behindern.
Dezentral zu bleiben ist eine Kunst bewusster Mäßigung. Sie verlangt von den Bürgern mehr als Gehorsam: Geduld, Zurückhaltung, Sinn für Unvollkommenheit. Und sie verlangt von Eliten eine fast unnatürliche Disziplin: zu handeln, ohne zu vereinnahmen; zu regieren, ohne zu absorbieren; zu koordinieren, ohne zu befehlen.
Die Versuchung der Organisation wird nie verschwinden. Es liegt im Menschen, Symmetrie der Ambiguität vorzuziehen. Doch das Überleben der Freiheit hängt davon ab, dass wir erinnern: Unvollkommenheit ist keine Unordnung, und Spontaneität kein Chaos.
Freiheit zu bewahren heißt nicht, Ordnung zu bekämpfen, sondern die Illusion zu bekämpfen, Ordnung brauche einen Herrn.
(c) Michael von Prollius — Jasay’s Garden, 2025