Kriegerische Gewalt ist heute wieder blutiger Alltag – von der Ukraine bis zum Nahen Osten. Doch auch im Innern der westlichen Gesellschaften erleben wir Gewaltausmaße, die aus Sicht der Bevölkerungen dringend nach Lösungen verlangen: Terroranschläge und Amokläufe, aber auch fortwährende Gewalt im öffentlichen Raum durch Gebrauch von Messern und Schusswaffen, erschüttern das Vertrauen in friedliche Koexistenz. Was treibt Menschen zu solchen Grausamkeiten? Wie können wir verstehen, was wir zu bekämpfen versuchen?
Der amerikanische Sozialpsychologe Roy F. Baumeister wagte sich bereits 1997 an diese fundamentalen Fragen heran und schuf mit „Evil: Inside Human Violence and Cruelty“ (deutsche Übersetzung: „Vom Bösen. Warum es menschliche Grausamkeit gibt“) eine Arbeit, die auch nach über zwei Jahrzehnten als Standardwerk gilt.

Roy F. Baumeister: Vom Bösen. Warum es menschliche Grausamkeit gibt, Verlag Hans Huber, Englische Erstauflage 1997, Bern 2013, 475 S., Hardcover 35,00 Euro.
Baumeisters zentrale These zerschlägt romantische Vorstellungen vom „reinen Bösen“. Statt sadistischer Monster findet er vier Hauptwurzeln menschlicher Grausamkeit:
• Instrumentelles Böses: Gewalt als Mittel zum Zweck – von Raub bis zu politischer Unterdrückung
• Bedrohtes Selbstwertgefühl: Narzissmus und gekränkte Eitelkeit als Gewaltauslöser
• Ideologischer Fanatismus: Die „gute Sache“ rechtfertigt brutalste Methoden
• Sadismus: Genuiner Lustgewinn durch Schmerzzufügung anderer (seltenste Form)
Besonders aufschlussreich ist Baumeisters Dekonstruktion des „Mythos des reinen Bösen“. Menschen, die „böse“ Dinge tun, glauben oft, dass sie etwas Rechtschaffenes oder aus dem richtigen Grund tun. Die meisten Täter sehen sich selbst als Opfer oder als Kämpfer für das Gute – eine Erkenntnis, die unser Verständnis von Gewalt grundlegend verändert.
Was Baumeisters Werk auszeichnet, ist seine forschungsbasierte Herangehensweise und perspektivenreiche Betrachtung. Anders als andere Autoren, die monokausale Erklärungen anbieten, integriert er Erkenntnisse aus Psychologie, Kriminologie, Soziologie und Geschichte. Baumeister besticht in seinen Arbeiten durch das Bemühen um wissenschaftliches Arbeiten, das Zusammentragen und eigene Erarbeiten von Studien und Fakten – eine Seltenheit in einem Feld, das oft von ideologischen Vorannahmen geprägt ist.
Kritische Würdigung
Allerdings ist das Buch etwas langatmig geraten, so dass man immer wieder querlesen kann. Die thematische Breite geht zwangsläufig auf Kosten der Tiefe, und manche Abschnitte hätten einer strafferen Redaktion bedurft. Dennoch bleibt es die umfassendste psychologische Analyse menschlicher Grausamkeit.
Verbindungen liegen nahe zu den Arbeiten des Historikers Jörg Baberowski, der betont, für überbordende Gewalt brauche es die Gelegenheit, treibe die staatliche Ermunterung sie an und werde sie durch Aussicht auf Straffreiheit befeuert (Gewalt ist eine Frage der Gelegenheit). Beide Autoren zeigen: Gewalt entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern durch das Zusammenspiel individueller Dispositionen und struktureller Ermöglichung.
Wer sich für Baumeisters analytische Schärfe begeistert, dem sei seine umfassende Arbeit zu geschlechtsspezifischen Unterschieden empfohlen, die ähnlich unideologisch und faktenbasiert zentrale Mythen unserer Zeit hinterfragt (Fakten statt Gender-Hokuspokus).
Fazit: „Vom Bösen“ bleibt ein aufschlussreiches Werk für alle, die Gewalt verstehen wollen, statt sie nur zu verurteilen und eine Voraussetzung für jeden ernsthaften Versuch ihrer Eindämmung.